Chanson

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Chanson (deutsch Lied) bezeichnet ein ursprünglich im französischen Kulturkreis verwurzeltes liedhaftes musikalisches Genre, das durch einen vortragenden Sänger und instrumentale Begleitung gekennzeichnet ist. Bereits im Mittelalter gab es eine populäre Gattung mit der Bezeichnung „chanson“.[3] Ab dem 19. Jahrhundert als klar konturierte „typisch“ französische Variante der internationalen Popkultur präsent, entwickelte sich das Chanson in den vergangenen Jahrzehnten musikalisch immer stärker in Richtung Pop, Rock und anderer zeitgenössischer international verbreiteter Stile;[4] gleichwohl ist der textlichen Gestaltung nach wie vor meist eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, die französische Sprache im französischen Sprachraum als Ausdrucksmittel des Chansons unverzichtbar.

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Begriff

Die Ursprünge des Chansons reichen bis weit ins Mittelalter zurück. Schon früh entwickelten sich zwei unterschiedliche Ausprägungen: eine literarische, höfische, von der Kunst der Troubadore abgeleitete und eine volkstümliche.[5] Aufgrund seiner langen Geschichte, seiner über den französischsprachigen Raum herausgehenden Verbreitung und aufgrund der unterschiedlichen Stile, mit denen es sich im Lauf der Zeit vermengt hat, ist eine eindeutige Abgrenzung zu anderen Musikgenres schwer. Nicht eindeutig festgelegt ist insbesondere die Abgrenzung:

zum deutschsprachigen Lied beziehungsweise zur deutschen Liedermacherszene

zum deutschen Schlager

zum Kabarett- oder Varieté-Lied als Bestandteil eines Programms oder einer Show

zur angelsächsischen Folkmusik beziehungsweise dem im angelsächsischen Raum gängigen Singer-Songwritertum und

zur angelsächsischen Popmusik.

Weitestgehend herrscht Einigkeit darüber, dass das moderne Chanson vor allem eine französische Errungenschaft ist. Obwohl es auch in Deutschland eine vielfältige Chanson-Tradition gibt, stand es dort stets im Schatten des Schlagers, der Operette und anderer populärer musikalischer Formen. Bemerkenswerte Chanson-Traditionen gibt es zum Teil in den Benelux-Ländern, der Schweiz und den französischsprachigen Teilen Kanadas[6], bedeutsame Parallelen darüber hinaus auch zur italienischsprachigen Canzone.

Besonderes Merkmal des Chansons ist seine Konzentration auf die Textaussage, die Anforderung, in „drei Minuten“ eine Aussage auf den Punkt zu bringen. Prägend für das moderne Chanson ist die Arbeitsteilung in auteur (Textschreiber), compositeur (Musikkomponist), interprète (Vortragender)[4] – eine Dreigliederung, die dem im Angelsächsischen verbreiteten Singer-Songwriter entspricht. Oft bedienen sich Chanson-Schreiber einer poetischen Bildsprache und verwenden abschnittsweise Sprechgesang oder komplett gesprochene Texte im Wechsel mit gesanglichen Passagen. Die Texte selbst decken eine Vielzahl von Themen und Stimmungen ab: Vom politisch geprägten Chanson über komische Situationen bis zu den häufigen Liebesliedern berichten Chansons von allen Situationen des Lebens, oft mit den Mitteln der Ironie und der Satire. Ein Zeitzeuge aus der Ära vor dem Ersten Weltkrieg skizzierte die Themenbreite so: „Man sang Chansons aller Art: skandalöse, ironische, zarte, naturalistische, realistische, idealistische, zynische, lyrische, nebulöse, chauvinistische, republikanische, reaktionäre – nur eine Sorte nicht: langweilige Chansons.“[4]

Während nach dem Ersten Weltkrieg Swing und Jazz musikalisch auf die Kompositionen Einfluss nahmen, passte sich das Genre ab den 1960er Jahren zunehmend an international populäre Musikstile wie Rock ’n’ Roll, Funk und New Wave an. Hinzu kamen Einflüssen aus der Weltmusik und des Hip-Hop, seit der Jahrtausendwende auch der elektronischen Musik. Damit zeichnen sich Chansons nicht durch einen einheitlichen Musikstil aus. Formal kann ein Chanson ein Blues, ein Tango, ein Marsch oder eine Rockballade sein, Swing und Flamenco verarbeiten oder sich an der schlichten walzerartigen Musette orientieren, was bis in die 1950er Jahre als typisch galt. Da die Abgrenzung zu benachbarten Stilen schwer ist, behelfen sich Rezensenten öfter mit dem Hinweis, ob es sich bei einem Lied um ein Chanson handele, werde man schon heraushören. Praktisches Hauptkriterium ist meist die Frage, ob ein Lied oder Künstler im weiteren Sinn in die Traditionslinie des Chanson einzuordnen ist.[4] Je nach Kontext, in dem man über „das Chanson“ oder eine bestimmte Chanson-Epoche spricht, können unterschiedliche historische Bezüge oder Musikstile gemeint sein:

historische Formen des Chansons. Die älteren, bis auf das Mittelalter zurückgehenden Formen spielen vor allem für die Liedhistorie eine große Rolle. Interessant sind sie darüber hinaus als Objekt kulturhistorischer und literaturwissenschaftlicher Betrachtung

das in Richtung Kabarett gehende, literarisch anspruchsvolle Chanson – eine Chanson-Form, die sich vor allem im deutschsprachigen Raum etabliert hat

das von volkstümlichen Musikformen wie der Musette beeinflusste Volkslied

das klassische französische Chanson, wie es bis in die 1960er Jahre vorzufinden ist. Merkmal: oft (aber nicht nur) klassische kleine Besetzung beziehungsweise Akustik-Band mit Gitarre, Piano und Kontrabass

das Pop-Chanson bzw. French Pop: französische Variante der angloamerikanischen Popmusik

Chanson als Genre-Oberbegriff für alle möglichen Musikstile, sofern sie erkennbar Song-Strukturen beinhalten. Dieser Chanson-Begriff ist vor allem im modernen Nouvelle Chanson vorherrschend.

Im Verlauf seiner Entwicklung hat das Chanson unterschiedliche Ausprägungen und Formen durchlaufen. Die Anfänge reichen zurück ins Mittelalter. Das moderne Chanson als französische Variante der Pop-Kultur bildete sich im 20. Jahrhundert heraus. Aktuelle Formen und Trends firmieren häufig unter Begriffen wie Nouvelle Chanson oder Nouvelle scène française. Weitere Neben-, Unter- und Spezialformen sind bekannt unter den Bezeichnungen Chanson à danser (einfaches volkstümliches Tanzlied), Chanson d’amour (Liebeslied), Chanson à boire (Trinklied), Chanson de marche (Marschlied), Chanson de travail (Arbeitslied), Chanson engagée (engagiertes, häufig sozialkritisches Lied), Chanson noir (Chanson mit pessimistischem Inhalt), Chanson populaire (in allen Gesellschaftsschichten bekanntes und beliebtes Chanson), Chanson religieuse (religiöses Lied) und chant révolutionaire (revolutionäres Kampflied).[5] Als stilbildende, prägende Richtungen für das Chanson des 20. Jahrhunderts erwiesen sich vor allem das in der Tradition des Naturalismus stehende Chanson réaliste am Anfang des 20. Jahrhunderts und das Chanson picturesque, das malerische Chanson, das vor allem in der Nachkriegszeit stark populär war.

Geschichte

Vorgeschichte: Mittelalter bis 19. Jahrhundert

Erste nachweisbare Vorformen des Chansons gab es bereits im frühen Mittelalter. Überliefert sind zum einen Kriegslieder aus der Zeit des Fränkischen Reichs, zum anderen Volkslieder und Chorgesänge, die teilweise bis in die vorchristliche Zeit zurückreichen. Erhalten geblieben sind davon nur wenige. Als bedeutend gilt das zur Gattung Chanson de geste gehörige Rolandslied, der Gesang von Krieg und Untergang im Kampf gegen die Heiden. Literaturwissenschaftler und Historiker datieren den Beginn einer Chansonkultur im engeren Sinn daher auf das Hochmittelalter. Erste französische Unterhaltungslieder finden sich im 12. Jahrhundert. Eine wichtige Gattung war die Form des höfischen Kunstlieds, welches ungefähr zeitgleich mit den Kreuzzügen entstand.[5] Ein wichtiger Exponent waren Troubadore, die meist aus dem Rittertum kamen und eine spezielle, unter dem Begriff Minnesang bekannte Form des Liebeslieds pflegten. In Nordfrankreich nannte man diese Sänger Trouvères.[5]

Die zweite historische Vorform ist das volkstümliche Lied. Seine Ursprünge reichen ebenfalls ins Mittelalter zurück. Seine Träger waren fahrende Sänger (unter ihnen auch Priester), die auf Marktplätzen Straßenlieder vortrugen. Aufgrund ihres zum Teil obrigkeitskritischen Inhalts war ihre Verbreitung oft durch Verordnungen und Gesetze eingeschränkt. Eine spätere Vorform sind die mehrstimmigen Liedsätze aus der Zeit der Renaissance. Zwei Dichter aus dem 15. Jahrhundert galten bis ins 20. Jahrhundert hinein als wichtige Inspirationsquellen: François Rabelais und François Villon. Das Chanson als textbetontes Lied mit einfacher Melodie und akkordischer Begleitung entstand ungefähr gleichzeitig mit dem Vaudeville im 16. Jahrhundert. Die Praxis des Chanson- und Vaudeville-Singens trug zur Gemeinschaftsbildung im absolutistischen Frankreich bei. Chansons waren im 18. Jahrhundert selbstverständlicher Bestandteil der französischen Opéra-comique.

Anlässlich informeller Zusammenkünfte, den sogenannten Dînners du Caveau, die sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausbreiteten, wurde das Chanson auch unter Künstlern, Literaten und Gelehrten populär. Gesellschaftskritische, satirische oder auch poetische Lieder bestimmten mehr und mehr das Repertoire zeitgenössischer Stücke.[7] In der Epoche der Französischen Revolution rückten als neuer Typ zunehmend Mobilisierungslieder in den Vordergrund. Bekannte Beispiele: die beiden Revolutionshymnen Ça ira und La carmagnole de royalistes. Die achtbändige Histoire de France par les chansons dokumentierte im Jahr 1959 einen Bestand von über 10.000 Liedern – darunter über 2.000 allein aus der Revolutionsepoche zwischen 1789 und 1795.[8] Stark geprägt wurde die Weiterentwicklung des Chansons vor allem durch die Aktivitäten der beiden Liedtexter Marc-Antoine Désaugiers (1742–1793) und Pierre-Jean de Béranger (1780–1857). Obwohl Bérangers oppositionelle Haltung im Nachhinein eher zwiespältig beurteilt wird (so unterstützte er nach der Julirevolution 1830 den „Bürgerkönig“ Louis-Philippe), genoss er im 19. Jahrhundert zeitweilig den Ruf eines französischen Nationaldichters.[7] Einhergehend mit der Industrialisierung Frankreichs und den politischen Auseinandersetzungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts wuchs auch das Repertoire unterschiedlicher Mobilisierungs-, Gesinnungs- und Gedenklieder weiter an. Viele entstanden im Gedenken an die Niederschlagung der Pariser Kommune (Beispiel: das 1886 entstandene Stück Elle n’est pas morte) oder stellten sich anderweitig in die Tradition des sozialistischen Arbeiterlieds.

Die klassische Ära des modernen Chansons: 1890 bis 1960

Ab dem 19. Jahrhundert entfaltete das französische Chanson internationale Ausstrahlung als Schlager- und Kabarettlied. Im Unterschied zur Opernarie und dem Operettenschlager war es in der Regel unabhängig von einer Bühnenhandlung, wurde nicht unbedingt opernhaft gesungen und hatte meist keinen Chor. Während sich die Tradition des literarischen Chansons mehr und mehr in die Sphäre von Klubs und Abendgesellschaften verlagerte, gewannen Cafés und Varietés als Auftrittsorte an Bedeutung, nachdem die Theater ihr Monopol für öffentliche Aufführungen verloren hatten. Als Amüsierbetriebe für Arbeiter und ein vorwiegend kleinbürgerliches, später auch bürgerliches Publikum entstanden seit den 1830er Jahren in Nachfolge der goguette die ersten cafés chantants an den Ausfallstraßen von Paris. Es folgten die vor allem in den nordöstlichen Stadtvierteln, am Montmartre und im Quartier Latin gelegenen Café-concerts, also in den Stadtteilen, in denen die „classes laborieuses“, die arbeitenden Klassen, lebten.[9] Dort wurden vermutlich nicht nur harmlose, sondern auch sozialkritische und politische Texte vorgetragen. Bekannt wurden vor allem das 1858 eröffnete Eldorado, das mit seinen 2000 Plätzen zum Tempel des Chansons erhoben wurde, oder die 1856 erbaute Scala. Ende des Jahrhunderts eröffneten die literarisch-künstlerischen Etablissements im Pariser Stadtteil Montmartre, so das 1880 von Rodolphe Salis begründete Le Chat Noir. Als weitere Auftrittsorte kamen schließlich Varietétheater wie das Moulin Rouge, die Folies-Bergères und das Olympia hinzu. Gemeinsam mit den ersten Kinos traten sie in Konkurrenz zum Café-concert und verdrängten es schließlich.

Da das Chanson vor allem seit der Französischen Revolution von 1789 mit hoher politischer Sprengkraft verbunden war, wurden diese Amüsierbetriebe von der Obrigkeit mit Argwohn betrachtet. Napoleon I. hatte bereits 1806 die zuvor ausgesetzte Zensur wieder eingeführt und auf Chansontexte ausgedehnt. Der Erfolg der Café-chantants und Café-concerts führte zu einem hohen Aufkommen an Chansons, das ein immer engmaschigeres Zensursystem erforderte. Nach zeitgenössischen Schätzungen wurden in den 1880er Jahren allein in Paris jährlich 300.000 Chansons produziert.[10] Unter den verbotenen Chansons befanden sich zahlreiche sozialkritische und auch anarchistische Chansons, die die soziale Ungerechtigkeit kritisierten sowie die Lebensweise des Bürgertums (z. B. Les infects von Léonce Martin oder Les Bourgeois von Saint-Gilles) und seine Angst vor Attentaten des Anarchisten Ravachol (beispielsweise das Lied La frousse, das 1892 in La Cigale gesungen werden sollte) karikierten.[11] Andere Chansons griffen die den Arbeiter abwertenden Bezeichnungen der herrschenden Klasse auf und werteten sie positiv um. Normalerweise hätten diese Chansons das Selbstbewusstsein der Arbeiter gestärkt, wie beispielsweise Le prolétaire von Albert Leroy oder Jacques Bonhomme von Léon Bourdon,[12] doch das bis 1906 arbeitenden Zensursystem versuchte dem vorzubeugen. Die Café-concerts mussten die Texte einreichen und eine Titelliste am Aufführungsabend aushängen, damit die Beamten das Repertoire überprüfen konnten. Da oft Änderungen vorgenommen wurden oder der Wortlaut während der Aufführung verändert wurde, schickte man schließlich Beamte in die Veranstaltungen, um den Wortlaut der gesungenen Chansons mit den eingereichten Texten zu vergleichen. Als erster moderner Chansonsänger sowie Pionier des naturalistischen Chansons gilt allgemein Aristide Bruant, ein Freund des Plakatkünstlers Henri de Toulouse-Lautrec. Bruant war als Sänger sehr populär; im Chat Noir absolvierte er seine Auftritte oft vor prominenten Literaten und Komponisten wie Alexandre Dumas dem Jüngeren, Émile Zola und Claude Debussy, der im Chat Noir gelegentlich Volkschöre mit der Blechgabel dirigierte. Yvette Guilbert, eine bekannte Sängerin und Diseuse, die sowohl im Chat Noir als auch im Moulin Rouge auftrat, brachte das Chanson aufgrund ihrer häufigen Aufenthalte in Berlin auch nach Deutschland.[5][7]

Zur Jahrhundertwende kristallisierte sich ein stark vom literarischen Realismus geprägter Chansontyp heraus, das chanson réaliste.[13] Seine Hochburg waren die Cafés und Kabaretts am Montmartre, insbesondere das Chat Noir und das Moulin Rouge. Bis zum Ersten Weltkrieg war der Montmartre ein Zentrum für hedonistische, oft frivole Zerstreuung. Die Chansons réalistes waren stark beeinflusst von der naturalistischen Bewegung in der Kunst.[14] Sie thematisierten vor allem die Lebenswelt der gesellschaftlich Randständigen, von Schlägern, Prostituierten, Zuhältern, Waisenkindern und Kellnerinnen. Bekannte Interpretinnen des großstädtischen Chanson realiste waren Eugénie Buffet, Berthe Sylva und Marie Dubas. Große Anerkennung genossen, neben Aristide Bruant, zwei weitere Frauen: Damia und die insbesondere in den 1920er Jahren populäre Fréhel. Eine eher ländliche, von traditionellen Werten geprägte Liedauffassung verkörperte dagegen der bretonische Sänger Théodore Botrel. Sein Lied La Paimpolaise war zu Anfang des Jahrhunderts eines der beliebtesten Chansons. Einer der erfolgreichsten Chansonniers der Jahrhundertwende war Félix Mayol. Zu frühen Klassikern des Chansons wurden außerdem das Stück Je te veux von Erik Satie (1897), Mon anisette von Andrée Turcy (1925), das Antikriegslied La butte rouge (1923) und das von Fréhel erstaufgenommene La java bleue (1939).

Die weitere Entwicklung des französischen Chansons wurde stark vom aufkommenden Jazz beeinflusst. Als chansonkompatibel erwiesen sich insbesondere die kleinen Ensembles. Herausragender Chansoninterpret der 1930er Jahre war der Südfranzose Charles Trenet, der sich zeitweilig von dem Jazzgitarristen Django Reinhardt begleiten ließ.[4] Von Swing und Jazz inspiriert war auch Jean Sablon, auch er ein vielgefragter Interpret der 1930er Jahre. Weitere bekannte Interpreten waren die als Königin des Revuetheaters verehrte Sängerin Mistinguett, der zeitweilig mit ihr liierte Sänger, Tänzer und Schauspieler Maurice Chevalier sowie der von der Insel Korsika stammende Tino Rossi. Eine ernstzunehmende Konkurrenz entstand Mistinguett durch die 1927 nach Frankreich übergesiedelte aus St. Louis (USA) stammende Tänzerin und Sängerin Josephine Baker. Prägend für die weitere Entwicklung des Genres war vor allem Édith Piaf, die ähnlich wie Charles Trenet ihre ersten Erfolge Ende der 1930er im Pariser Théâtre de l’ABC feierte. Ihren Durchbruch erzielte sie mit Chansons des Texters Raymond Asso, der auch für andere bekannte Chansonniers wie die Music-Hall-Sängerin Marie Dubas Texte schrieb. In den 1950ern galt Édith Piaf nicht nur als überragender Chansonstar, sondern war auch Gönnerin, Förderin und in einigen Fällen zeitweilig Lebenspartnerin neuer Talente wie zum Beispiel Yves Montand, Gilbert Bécaud und Georges Moustaki.

Der Zweite Weltkrieg bedeutete – abgesehen von einer generellen Zensur aller medial oder auf Bühnen verbreiteten textlichen Werke durch die Besatzungsmacht – keinen wesentlichen Einbruch in der Entwicklung des französischen Chansons. Als wichtige Inspirationsquelle des Nachkriegschansons erwies sich die aufkeimende philosophisch-literarische Richtung des Existenzialismus. Der Schriftsteller, Jazztrompeter und Chansonnier Boris Vian, ein Bekannter Jean-Paul Sartres, schrieb nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Interpreten Texte. Sein berühmtestes Lied ist Le déserteur. Ebenfalls aus dem Umfeld Sartres kam Juliette Gréco, eine Sängerin, deren Texte als politisch und intellektuell anspruchsvoll galten und deren Popularität gegenüber der Édith Piafs deutlich abfiel. Als anspruchsvoll-innovativ galten in den 1950er Jahren insbesondere die überwiegend zur Gitarre vorgetragenen Chansons des Südfranzosen Georges Brassens sowie die des Belgiers Jacques Brel. Während Brassens seine politisch linksstehende Haltung unter anderem auch durch regelmäßige Auftritte bei Veranstaltungen der Anarchisten unter Beweis stellte, formulierte Brel in vielen seiner Lieder eine eher nihilistische allgemeine Gesellschaftskritik.[15] Zu weiteren Exponenten des modernen Chansons avancierten in den 1950ern Gilbert Bécaud („Monsieur 100.000 volt“; bekanntester Hit: Natalie), Georges Moustaki, der stark an US-amerikanischen Unterhaltungskünstlern wie Frank Sinatra und Dean Martin orientierte Charles Aznavour sowie Henri Salvador, Léo Ferré, Marcel Mouloudji, Dalida, Brigitte Fontaine und die Sängerin, Komponistin und Texterin Barbara, die sich am Flügel begleitete und als eine der ersten Frauen galt, die nicht nur als Interpretinnen auftraten, sondern eigene Stücke vortrugen. Zu einem wichtigen Auftrittsort der Chansonszene avancierte von 1954 an das umgebaute Olympia, eine Pariser Music Hall, die 1888 von Joseph Oller, dem Gründer des Moulin Rouge, errichtet worden war.

Stilistische Vielfalt: 1960 bis 1990

Anders als in Deutschland erreichte die Rock-’n’-Roll-Welle Frankreich vergleichsweise spät. Bis in die 1960er hinein war der Jazz der wichtigste angelsächsische Musikimport, eine Musik, die durch einige Filme der Nouvelle Vague zusätzlich popularisiert wurde (bekanntestes Beispiel: Fahrstuhl zum Schafott aus dem Jahr 1958). Im Gefolge der Beatmusik trat jedoch eine neue Generation von Chansoninterpreten ins Rampenlicht. Die Yéyé-Welle (abgeleitet vom Yeah, Yeah der Beatles) orientierte sich musikalisch stark an der Musik britischer Bands wie der Beatles, der Kinks und der Rolling Stones sowie den Trends der Swinging Sixties. Als Sänger und Interpreten einen einflussreichen Status gewannen der stark vom Rock ’n’ Roll beeinflusste Johnny Hallyday, der als französischer Rolling-Stones-Epigone gehandelte Jacques Dutronc, Michel Polnareff, Joe Dassin und Julien Clerc. Zu bekannten Sängerinnen der Dekade avancierten Dutroncs spätere Ehefrau Françoise Hardy, France Gall sowie Sylvie Vartan.[16] Andere Interpretinnen der Yéyé-Periode wie Zouzou oder Adèle gerieten in Vergessenheit, wurden jedoch im neuen Jahrtausend wiederentdeckt und auf einigen Retro-Kompilationen zum French Pop der Sixties wiederveröffentlicht. Als Pendant zur angelsächsischen Folksongwelle (Joan Baez etc.) kann Anne Vanderlove mit ihren stillen und melancholischen Liedern gelten. Wegweisend für die weitere Entwicklung des Chansons wurde der Songschreiber und Interpret Serge Gainsbourg. Gainsbourg galt einerseits als vielseitiger Musiker, andererseits als ebenso begnadeter Provokateur. Zu einem Skandal führte der 1967 mit Brigitte Bardot im Original eingespielte, zwei Jahre später mit Jane Birkin neu herausgebrachte Titel Je t’aime … moi non plus, der – heftiger Kritik und Boykotten zum Trotz – Ende der 1960er Jahre ein großer internationaler Erfolg wurde.[17]

In den 1960ern und 1970ern verwischten sich die Grenzen zwischen Chanson und Popmusik mehr und mehr. Mit befördert wurde diese Entwicklung unter anderem auch vom Grand Prix Eurovision e la Chanson, der bis weit in die 1970er Jahre hinein stark von französischsprachigen Titeln geprägt war. France Gall, 1965 Siegerin mit dem von Serge Gainsbourg geschriebenen Stück Poupée de cire, poupée de son, suchte ebenso wie andere Künstler den Brückenschlag zum angelsächsischen Popmarkt sowie dem Schlagermarkt im angrenzenden Deutschland. Auch andere Künstler wie Salvatore Adamo oder Mireille Mathieu verfolgten zwei- oder sogar mehrgleisige Karrieren und machten sich auch als Schlagerinterpreten einen Namen. Ein Sonderfall ist die aus Großbritannien stammende Petula Clark, die zunächst in Frankreich bekannt wurde, später jedoch vor allem auf dem englischsprachigen und internationalen Popmarkt erfolgreich war.

Die Chansonszene der 1970er und 1980er wurde zunehmend von internationalen Musikstilen bestimmt. Umgekehrt ging die Ausstrahlkraft, die das französische Chanson in den 1950ern und 1960ern gehabt hatte, in den 1970er Jahren spürbar zurück. Einige Hitlieferanten wie zum Beispiel Sheila verlegten sich Ende der 1970er auf englischsprachige Disco-Musik. Claude François, ein weiterer erfolgreicher Sänger, konzentrierte sich auf Cover-Versionen bekannter Pop-Titel. Weitere Interpreten jener Periode wie Nicoletta (Mamy Blue), Daniel Balavoine und Michèle Torr richteten ihre Produktionen ebenfalls stark auf den internationalen Popmarkt aus. Entgegengesetzte Akzente setzte der von den Ereignissen des Mai 1968 geprägte Bernard Lavilliers. Er verband die Tradition des kritischen Chansons mit musikalischen Einflüssen aus der Karibik, Lateinamerika und Rock-Elementen. Weitere Künstler, die die Tradition des (gesellschafts)kritischen Chansons weiter pflegten, waren der Pariser Interpret, Komponist und Autor Renaud sowie der aus Algerien stammende Sänger Patrick Bruel. Wichtige Interpreten des französischen Chanson-Mainstream waren in den 1970er Jahren vor allem Julien Clerc und Michel Berger. Clerc wurde bekannt als Autor der französischen Version des Musicals Hair und hatte in den 1970ern eine zahlreiche Hits; über eine Dekade erreichte nahezu jede seiner Langspielplatten Gold- oder Platinstatus. Berger hatte in den 1960ern Hits geschrieben für Johnny Halliday, Véronique Sanson und Françoise Hardy und komponierte 1978 die französische Rockoper Starmania.

Aufgrund ihrer stilistischen Vielfalt etablierte sich für französische Popmusik in der Folge – im Ausland – mehr und mehr die Bezeichnung French Pop. International Anschluss gewinnen konnte sie wieder Anfang der 1980er. Während Bands wie Téléphone dezidiert Punk- und New-Wave-Musik spielten, sprachen Duos wie Chagrin d’amour und Les Rita Mitsouko (Hit: Marcia Baila) ein breiteres, internationales und gleichzeitig junges Publikum an. Ähnliches gilt für den Belgier Plastic Bertrand, der mit Ça plane pour moi 1980 einen Einmalhit landete, sowie Indochine und Mylène Farmer. Stilistisch erweitert wurde das Chanson auch durch Interpreten aus den ehemaligen Kolonien. Bekannte Künstler: die vom algerischen Raï und arabischer Musik stark geprägten Interpreten Cheb Khaled und Sapho. Stärker auf französische sowie internationale Folklore ausgerichtet war die Musik von Bands wie Les Négresses Vertes und Mano Negra. Andere Interpreten wie etwa die aus dem lothringischen Forbach stammende Sängerin Patricia Kaas orientierten sich stark am klassischen Chanson, modernisierten es allerdings durch Elemente aus Jazz, Blues und Swing. Eine wichtige Rolle für die Weiterentwicklung französischsprachiger Musik spielte die Etablierung einer eigenständigen französischen Hip-Hop-Szene. Weltweit die zweitgrößte nach der der USA, brachte sie Stars hervor wie zum Beispiel MC Solaar, Kool Shen und Joeystarr.[16]

Entwicklung seit 1990: Nouvelle Chanson

1994 setzte der damalige französische Justizminister Jacques Toubon eine gesetzliche Quote für französischsprachige Songs durch. Seither sind Radiostationen verpflichtet, zwischen 30 und 40 Prozent des Gesamtprogramms mit französischen Interpreten zu belegen, was so oder ähnlich jedoch auch vorher bereits Usus gewesen war. Ob die französische Rundfunkquote die Entwicklung des neuen, zeitgemäßen Chansons (Genrebegriffe auch: Nouvelle Chanson oder Nouvelle scène française) befördert oder sich letztlich wenig auf die einheimische Musikproduktion ausgewirkt hat, ist umstritten. Unbemerkt vom internationalen Markt, entwickelte sich seit den frühen 1990ern indes eine neue Chansonszene.[18] Anders als bei den Generationen zuvor lagen die Zentren des Nouvelle Chanson meist in der französischen Peripherie. Stilistisch war das Nouvelle Chanson einerseits durch eine große Stilvielfalt, andererseits durch den bewussten Rückgriff auf Merkmale und Stilelemente des klassischen Chansons geprägt.

Als Wegbereiter der neuen Szene gilt allgemein der Sänger und Komponist Benjamin Biolay. Weitere wichtige Interpreten sind Dominique A, Thomas Fersen, der Sänger Philippe Katerine, dessen Ehefrau Helena Noguerra, Émilie Simon, Coralie Clément, Sébastien Tellier, Mickey 3D und Zaz. Stark befördert wurde der Bekanntheitsgrad des Nouvelle Chanson durch die von Yann Tiersen komponierte Musik zu dem Film Die fabelhafte Welt der Amélie. Bekannt wurde die neue französische Chansonszene auch durch die Erfolge der New-Wave-Coverband Nouvelle Vague sowie den weiterhin anhaltenden Einfluss der Chanson-Ikone Serge Gainsbourg. Gainsbourgs Tod im Jahr 1991 hatte unterschiedliche Werksneuauflagen, Tribute-Of-Kompilationen und weitere Würdigungen zur Folge. Die Diskussion um seinen Einfluss auf das neuere Chanson hielt auch im neuen Jahrtausend an. Strahlkraft auf das aktuelle Chanson entfalten, neben Einflüssen aus Lounge-Pop und anderen aktuellen elektronischen Stilen, schließlich auch frankophone Popstars wie die Kanadierin Céline Dion, jüngere Popsänger und Popsängerinnen wie zum Beispiel Alizée und Carla Bruni. Ein weiteres Indiz für die ungebrochene Akzeptanz des Chansons in Frankreich ist die Tatsache, dass immer wieder Coverversionen berühmter Chansonklassiker zunächst aus den 1940er und 1950er, inzwischen auch aus den 1960er und 1970er Jahren aufgenommen werden.[7]


Text: Wikipedia

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